Schelling

Schelling Nachlass-Edition


A Madame

Madame Gotter

née Stieler

à

Gotha

fr˖[ey] Coburg

Wir sind, liebste Mutter, seit dem hier, nämlich in München, haben das Land verlassen und befinden uns recht gut in der Stadt bey eigner Kost und in der angenehmen, neu hergerichteten Wohnung. Ich fühlte mich gedrungen wegen P[auline]s˖ Zustand unsren Rückzug vom Land zu beschleunigen. Die Einsamkeit war ihr jetzt nicht zuträglich. In der That, ist es die Zerstreuung, oder bringt es die Zeit mit sich, P˖[auline] befindet sich seitdem viel besser, ihre Übelkeiten scheinen im Abnehmen und lassen um so mehr hoffen, daß sie mit ganz verschwinden. In diesem Augenblick ist Frau von Köhler bey ihr und hindert sie, selbst den Abend zu schreiben, wie sie gesonnen war.

Ich schreibe Ihnen gern, liebste Mutter, weil ich ein Leid, das ich Paulinen nicht einmal noch sagen konnte und wollte, Ihnen klagen mag – denken Sie den Verlust meines guten Vaters Ja er ist nicht mehr unter den hier Lebenden; meine Augen werden ihn in diesem Leben nicht mehr sehen. Er verschied den ; Karl und die Schwester waren an seinem Sterbebette; August konnte nicht mehr kommen, viel weniger als ich. An ebendiesem Tag bekam ich die erste Nachricht von seiner Krankheit, die mich gleich auf die weit schmerzlichere von seinem Tod vorbereitete. Seine Gesundheit ließ 80 Jahre für ihn hoffen, (75 hat er erreicht); ein Zufall, eine Erkältung zog ihm den schmerzhaften Zustand zu, der sein Leben endigte. Es ist herzzerreissend für mich, daß Er, der einen sanften Tod so sehr verdient hätte, fast 8 Tage lang eines der schmerzlichsten Übel erduldete. Doch er hat überwunden, und erndt nun den Lohn eines herrlich, mild und rechtschaffen geführten Lebens. Wie Er, gehen wenige in die andre Welt. Es war in Sinn und Geist ein alt-testamentlicher Mann, seinem Innern nach wie einer der Erzväter. Gott wird ihm lohnen, was er uns gewesen. Ich danke ihm alles; er war, ich kann es sagen, mein einziger Lehrer; was ich von andern bekommen und wie ich es bekommen, dazu hatte er den Grund gelegt; nie wird das Bild seines Lebens und Seyns aus meinem Innern verschwinden. Nie werd' ich einen solchen Mann wiedersehen. Im herben Schmerz tröstet mich allein, daß er mir auch dort noch Vater seyn wird; er kann der Seinigen nicht vergessen, und auch Er ist nicht einsam, sondern findet dort schon eine Familie um sich her, 3 vorangegangene Söhne und unsere Caroline, wie wird sich diese seiner erfreuen, sie liebte ihn von Herzen und mit dem ganzen Gefühl seiner innern Herrlichkeit.

Pauline habe ich nun heute sagen müssen, daß er gefährlich krank ist. Es war ihm gewiß kein geringer Trost mich so gut versorgt zu wissen, an der Seite einer so lieben Seele. Mich schmerzt, daß er Paulinen nicht gesehen, in ihr fand er gewiß ein Kind nach seinem Herzen. Mein einziger Trost ist sie in diesem Augenblick wirklich. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie wohl mir mit ihr ist, wie sich alles so gut unter ihren Händen ordnet, welchen innern und äußern Frieden ich durch sie genieße. – Nächstdem, daß ich an Ihnen eine zweyte liebe Mutter gewonnen habe, die beste ihres Geschlechts, wie Meyer Sie kürzlich in einem Brief an mich genannt hat – Meine leibliche Mutter ist höchst zu beklagen; doch zeigt sie große Fassung; der Himmel helfe ihr hindurch wie bisher. Freylich nach einem friedlichen Zusammenleben von 40 Jahren ist es schwer, sich noch an das Leben zu gewöhnen, das allein geführt werden soll. –

Leben Sie wohl, liebste Mutter, ich muß schließen. Erhalten Sie mir Ihre Liebe, die für mich ein wesentlicher Trost ist.
Ihr
geh˖[orsamer] Sohn

F. S.

Dieser Brief blieb am letzten Posttag liegen, weil er zu spät auf die Post kam.