München den
Soll ich Ihnen gestehen, daß ich nichts weniger erwartete, als von Ihnen mit einem Brief erfreut zu werden? Ich dachte Sie mir immer – remotum longe sejunctumque a nostris rebus, und nun rücken Sie mir auf Einmal nahe in einer Gegend, wo ich kaum hoffen konnte, Ihnen jemals zu begegnen. Es bedurfte einiger Augenblicke mich zu überzeugen, daß der Brief wirklich von Ihnen, von dem nämlichen Freunde sey, zu dem vor (vielleicht grade) mein Geist eine so starke Anziehungskraft fühlte, den ich aber fast als eine für mich nur vorübergehende Erscheinung betrachten mußte. Bringen Sie mit dieser Freude nicht die lange Verzögerung der Antwort in Widerspruch, Ihr Brief vom ist bis bey unsrem Freund, Perthes liegen geblieben, es kommt also wenigstens nur die Hälfte der Schuld auf meine Rechnung. – Nun möchte ich Sie gern festhalten, weil ich eine ungemeine Sehnsucht habe, mit Männern Ihrer Art umzugehen, da ich mich mit denen, welche billig meine Nächsten seyn sollten, meist langweile. –
Sie trauen mir (doch nur halb) den Gedanken zu, daß die Zeit keine bloße Denkform, sondern in der That etwas würkliches sey. Ich darf Ihnen wohl sagen, daß dieser Gedanke und das System der Zeiten selbst (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft), aber nach einem größeren Maßstabe als der ist, nach dem wir diese Begriffe nur in der Gegenwart anzuwenden pflegen, das Thema eines längst angekündigten aber noch nicht vollendeten Buchs: die Weltalter ist. Bin ich (vielleicht bald) so glücklich, Ihnen dieß Werk zu übersenden, so hoffe ich, Sie werden mit der Entwicklung und Darlegung des Wesens der Zeit zufrieden seyn. Sie sind aber auch, nebst höchstens zwey Menschen, der Einzige, den ich so über die Zeit reden hören. In diesem Punkt ist fast alles Kantianer, oder beruhigt sich wenigstens darüber und schläft sozusagen an diesem Abgrund, der einmal aufgedeckt für unser ganzes religiöses und wissenschaftliches Wesen einen ganz andern Gehalt geben wird.
Mathematische Beweise von übersinnlichen Sachen kann es nicht geben, weil hier alles auf Untersuchung beruht, nichts Dogma ist. Es lassen sich da nicht einmal feste Sätze hinstellen, wie von geometrischen Wahrheiten. Das Philosophiren ist zuletzt ein Erforschen der Wege Gottes, oder des Wesens, das da war, das da ist – das da seyn wird
. Hier sind wohl Recherchen so nöthig ja nöthiger, als in der Geschichte der Erde, der Geologie, oder in irgend einer andern Historie. Die Faulheit, die sich vor Recherchen fürchtet, ist es, die alles mit der reinen Vernunft auf dem leichtesten Weg ausmachen möchte und deßhalb Gott und seine Natur mit dem Verstand selbst in Widerspruch erklärt.
Was Sie mit einer Gewißheit, die keinen Zweifel verstattet, von Lessings Denkart in Bezug auf Mendelssohn mir mittheilten, war mir in so fern merkwürdig, als ich Jacobi’n, nicht einmal, von dieser Seite im Unrecht glaubte. Bedenke ich, mit welchen Künsten wenigstens bey der gesammten nachgewachsnen Welt, jene Meynung hervorgebracht worden, die Sie bestreiten: so entsteht mir der Wunsch, den alten Mendelssohn noch in das ihm gebührende Recht auf Lessings wissenschaftliche Achtung wieder eingesetzt zu sehen, ehe die Meynung unwiderruflich auf ihm haftet. So wenig ich mit ihm sympathisire, so oft habe ich mir einen Mann seiner Klarheit zurückgewünscht, mit dem es doch möglich war, in’s Reine zu kommen; um so mehr wünsche ich etwas zur Herstellung der Meynung über ihn in Ansehung jenes Punktes beyzutragen. Wollten Sie mit oder ohne Ihren Namen etwas über sein Verhältniß zu Leßing sagen, (da sich sonst sobald nicht wieder Gelegenheit finden möchte), so biete ich Ihnen dazu eine Zeitschrift an, die ich demnächst herauszugeben gedenke und von der Ihnen Perthes das Nähere mittheilen kann. Sie sollten überhaupt so Vieles, das Sie mittheilen könnten, der Welt nicht vorenthalten. Ich bitte Sie, alles der Art, besonders literarische und historische Beyträge einstweilen jener Zeitschrift anzuvertrauen, die, ich hoffe es, einen lang gewünschten Vereinigungspunkt abgeben soll, indem sie nichts ausschließt, was ganz und tüchtig ist und nur das Halbe, Lähmende, Tödtende Unkräftige verfolgt. Daß Sie in Ansehung solcher Mittheilungen, bey denen es darauf ankommt, auf vollkommne Diskretion rechnen dürfen, glaube ich Sie nicht erst versichern zu dürfen.
Leben Sie recht wohl, gedenken Sie meiner Bitte und erhalten Sie Ihre sehr werthe Gunst
Ihrem
aufrichtigen Verehrer
Schelling.