Seiner Hochgebohren
dem Herrn geheimen JustizRath
und Ritter Schelling
franco.
Dresden, den .
Erlauben Sie mir, hochzuverehrender und herzlich geschäzter Herr geheimer JustizRath, frey von allen gewöhnlichen Regeln und Umschweifungen des Briefstils, Ihnen aus der Ferne einen Mann in Erinnerung zu bringen, der es als ein wahres Glück schäzt Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben und obgleich nicht vermögend Ihren Geist gehörig zu schätzen, doch durch eine gewiße Herzensahndung zu Ihnen eine Neigung fühlt, die Ihm auch von Ihm selbst seitdem eine beßere Meinung beygebracht hat. Ich war schon längst gesonnen Sie, verehrungswürdiger Mann, für Ihre herzliche Aufnahme in Karlsbad zu danken, aber mein Gemüthszustand und die Unruhe über die Krankheit meines Bruders, der jezt, Gott sey Dank! sich viel beßer befindet, entzogen mich von Allem wozu ich mich sonst hingerißen fühlte. Jezt, überzeugt juristisch (obgleich ohne Nutzen für Ihn), so wie ich es vorher moralisch war, von der gänzlichen Unschuld deßen, der unser Unglück, aber zugleich meine jetzige hohe Seelenstimmung verursachte, und etwas beruhigt über die Gemüthskrankheit meines hiesigen Bruders, fange ich an selbst aufzuleben und denke meine hiesige Muße einer wißenschaftlichen Thätigkeit zu widmen, darüber meine Zeit und Alles was mich betroffen so viel als möglich, vergeßen und mich selbst moralisch und wißenschaftlich, den jetzigen Zeiten etwas entsprechend, auszubilden, so viel wenigstens als es in meinen Kräften seyn wird, die, wenn nicht ganz erschlafft, doch stark gelähmt sind. – Obgleich ich fern von allen ehrgeitzigen Entwürfen bin und keinen andern Regungen in mir zu entstehen erlauben möchte, als denen des allgemeinen Wohlwollens und einer wahren, herzlichen, aber zugleich aufgeklährten Vaterlandsliebe, so wäre es doch Undank und Egoismus von meiner Seite, wenn ich nicht zugleich der Hofnung Raum ließe meinen jetzigen Aufenthalt in dem geistigthätigen Deutschland auch für meine in der Zukunft möglichen Verhältniße in Rußland zu benutzen. Auch jezt, indem Ich an Sie schreibe und im Sinne habe Sie um Aufmunterung zu meinen Studien und um Aufklährungen zu ersuchen, denke ich nur an mein Vaterland und an mich selbst, blos in Rücksicht auf Ihn, und wahrlich, ungeachtet alles deßen, was mit Uns geschehen, Ich
erköhre mir kein andres Land
zum Vaterland,
Wäre mir auch frey die große Wahl!
Ich wünschte nicht umsonst jezt in Deutschland leben und mich wieder, wie vor in Göttingen, für eine administrative Wirksamkeit, ganz im Stillen vorzubereiten. Mein Lieblingsfach, außer der Welt- und besonders Religionsgeschichte, bleibt immer Schulwesen und Verbreitung der hohen akademischen Studien. Meine Ansichten darüber, was Rußland anbetrifft, sind von der Art, daß sie nicht einem solchen Plane zuwider wären, der von dem Allgemeinen und Reinwißenschaftlichen ausgehend, in alle Zweigen des menschlichen Wißens hinunterläuft. Freylich möchte ich gern meinen Studien eine mehr praktische Richtung geben, aber von dem Allgemeinen müßen sie doch ausgehen. Meine systematische Lectüre möchte ich gern von einem strengphilosophischen, aber auch geistvollen Werke anfangen, und daran das Studium der Geschichte anknüpfen, welches in alle Fächer der Administration, so wie auch der Legislation eingreift. Ich habe mich etwas hier in den verschiedenen Litteraturen umgesehen, aber noch zu keiner systematischen und strenggeordneten Lectüre mich entschließen können. Ich erwarte das Erscheinen Ihres neuen vollständigen Werks mit einer Ungeduld, als ob ich wirklich fähig wäre es zu faßen. Ich werde es doch versuchen! Indeßen würden Sie, hochverehrter Mann, mir wirklich eine wahre Wohlthat erweisen, wenn Sie mir Etwas, was Sie selbst für das Beßte im Fache der Geschichte und der Philosophie halten, anzeigen könnten, so wohl in Deutscher, als in Englischer oder Französischer Litteratur. Apropos: Haben Sie schon Cousin’s »fragmens philosophiques« gelesen. Darin ist Neues nur sein Compte-rendu über die neuesten philosophischen Bestrebungen in Frankreich, aber so eine Sprache führen, dürften wohl, aber würden selbst Kant oder Schelling nicht. Übrigens ist jezt in Frankreich, durch die Annäherung an die Deutsche Litteratur, ein Geist der Forschung aufgeweckt worden, welchen Sie beßer als ich zu würdigen werden. Auch in Cousin sind in einigen Stellen Ausstrahlungen, die Ihres Geistes nicht ganz unwürdig sind. Guizot hat eine merkwürdige Einleitung zu einer »Encyclopédie progressive« geschrieben, nur, obgleich selbst Schüler und Verehrer der Deutschen, spricht er immer als ein wahrer Franzose von den Fortschritten der Philosophie im 19ten Jahrhundert und sieht Licht nur unter seinen Fenstern. – Ich habe eine Auseinandersetzung eines neuen Werks von Herrn Thiersch gelesen: über gelehrte Schulen in Bayern. Es ist wohl derselbe, für den ich von Ihnen einen Recommendationsbrief erhalten, aber noch nicht abgegeben habe. Das Werk scheint vortreflich, und obgleich für Bayern geschrieben, doch auch für Andere belehrend zu seyn. Munich scheint wirklich aufblühen zu wollen und es macht dem neuen König, an den ich nie denke, ohne zugleich mich an seinen Aufenthalt in Göttingen zu erinnern, wirklich Ehre, daß Er in Seiner Residenz auch die Wissenschaften mit der Kunst vereinigen will. wird dort auch die Zusammenkunft der Deutschen Naturforscher statt haben. Vor einigen Wochen habe ich hier diesen Versammlungen mit wahrem Interesse beygewohnt. Es ist ein Leben, was sich in Deutschland regt, das die Retrogradation unmöglich macht und zugleich den Brodtgelehrten
, wie Schiller sie nannte, den Umsturz Ihres friedlichen Compendienhüten drohet, auf deren Eingang das: noli me tangere, nicht lange stehen bleiben wird. Der allmächtige Hauch der wissenschaftlichen Forschung wird sie umstürzen und neue Paläste werden emporsteigen, die wieder andern den Platz räumen und so bis an’s Ende der Weltgeschichte, wo alle Keime des menschlichen Erkenntnißes sich entwickeln und den Plan der Vorsehung rechtfertigen werden. – Jetzt erlauben Sie mir eine Hauptfrage: Ist es wahr, daß Sie als Professor an der neuen Universität in Mun˖[ich] angestellt sind; daß Sie aber nicht eher als in Ihr Lehramt daselbst antreten werden? Es wäre vieleicht nicht unmöglich und gewiß ein Glück für mich, wenn ich zu dieser Zeit noch mit der meinigen disponiren könnte. Mir liegt sehr daran es vorläufig zu wißen, so wie auch was für Vorlesungen Sie halten werden? – Ich werde hier in Dresden, bis zum (oder Ende April) bleiben und dann warscheinlich eine Reise mit meinem Bruder, und mit meinem Jugendfreunde, dem berühmten Dichter und jezt Erzieher unseres Grossfürsten und ThronErben, Zoukoffsky, nach Paris machen, wo ich nur 3 bis 4 Wochen, wegen BücherAnkauf bleiben werde und dann mit meinem Bruder in die Schweitz reisen und dort wieder meine Studien fortsetzen. Wenn Sie mich mit einigen Zeilen beehren wollen, so ist meine Adresse: à Mr A.T. im Italienischen Dörfchen, N 9. oder poste restante in Dresden. Ich ersuche Sie Ihrer Frau Gemahlin meine wahre Verehrung zu bezeugen und zugleich den Wunsch, daß Ihre Gesundheit sich immer beßere und daß sie auch über die Ihrige keine Ursache habe sich zu beunruhigen.
Empfangen Sie, hochgeschäzter Herr Geheimer Rath, die Versicherung der aufrichtigsten Verehrung, mit der ich verbleibe
Ihr ganz gehorsamster Diener
Alexander Turgeneff