Schelling

Schelling Nachlass-Edition


Liebster Bruder!

Daß ich dir so lange Zeit nicht geschrieben, davon liegt der Grund in nichts Anderem, als in einer gantz ungewöhnlichen Menge an Geschäften, mit welchen ich eigentlich seit Jahr und Tagen überhäuft bin, und die, weil ich namentlich mit meinen zu Hause zu machenden Geschäften nie gantz fertig wurde, sondern immer wieder ein Retardat hatte, mich unaufgelegt zu jedem andern auch leichten Geschäft machten. Nachdem ich dir einmal so lange nicht geschrieben hatte, so wollte ich doch auch nicht bloß mit einigen Linien angestochen kommen, und zu einem größeren Briefe könnte ich nie kommen, wenn ich mir nicht Gewalt anthun wollte, was bei einer Sache, die man con amore thun möchte, doppelt schwer fällt. Seit Jahr und Tagen ist unser liebes Stuttgart eigentlich ein großer Spital gewesen, in welchem immer eine Menge Krancke vorhanden waren. Vorigen und den über war eine Masern- Scharlach- und KrampfhustenEpidemie hier, die bis in das hinein fortdauerten und unser einen in beständiger Thätigkeit und Ermüdung erhielten, und auch diesen über gab es immer fort eine Menge Krancke. Ich hatte mir vorgenommen, diesen Sommer auf 3–4 Wochen entweder in ein Bad, oder auf eine Reise mich zu begeben, und machte mich auch vor 4 Wochen los. Weil ich aber im Hohenlohe’schen eine Augenoperation vornehmen mußte, zu der ich mich schon engagirt, hatte, so gieng ich zuert dahin, und wollte dann nach Göppingen ins Bad gehen, wo sich meine Schwiegereltern befanden, und nach m˖[einer] Abreise von hier meine Frau sich auch hinbegeben hatte. Im Hohenlohe’schen fand sich aber eine solche Menge von Blinden bei mir ein, und ich wurde zu so vielen kleinen NebenReisen veranlaßt, daß mir für den Aufenthalt in Göppingen nur 8 Tage übrig blieben, und ich nach 10tägiger Abwesenheit um so mehr wieder hieher zurückeilen mußte, als unser Vetter Kless, welcher den größten Theil meiner Krancken besorgt hatte, selbst krank geworden, und eine bedeutende SchleimfieberEpidemie, welche noch gegenwärtig fortdauert, sich hier ausgebildet hatte. So kurtze Zeit konnte zwar zu keiner vollkommenen Erhohlung, aber doch zu einiger Erfrischung dienen, und besonders wird mir die Erinnerung an den Hohenstauffen, den Rechberg und andere schöne Berge, die ich von Göppingen aus bestiegen, und deren reine Luft mit unserer hiesigen, dieses Jahr besonders koncentrirten Mephitis einen seltsamen Kontrast machte, eine angenehme Erinnerung bleiben. Dieser Sommer hatte für uns noch manche andere Beschwerlichkeiten. In unserem Hause wurde gebaut, und namentlich unser vorderes Stockwerck ebenfalls gantz neu eingerichtet, so daß wir erst in ungefähr 10–12 Tagen wieder in Besitz unserer vordern Zimmer kommen werden, und den gantzen Sommer in den hintern uns behelfen mußten, und im Gefolge des Bauwesens eine Menge von Unannehmlichkeiten zu ertragen hatten. Dafür hat nun aber unser Hauswesen eine freundlichere Gestalt bekommen, und ich wünschte mit meiner Frau nun nichts sehnlicher, als daß du und deine liebe Frau euch entschließen möchtet, als eine kleine Nachkur auf das Karlsbad hieher zu kommen, und eine Traubenkur zu gebrauchen. In 3–4 Wochen wird es hier schon zeitige Trauben genug geben, und außerdem wird wahrscheinlich ein recht angenehmer Nachsommer kommen, so daß eine Reise um diese Zeit gewiß nicht übel wäre. Du solltest diesen Sommer vollends drauf gehen laßen, deiner Gesundheit noch ein Opfer bringen, und hieher könntest du deine sämtlichen Kinder mitbringen, so daß diese keinen Anstand gegen die Reise abgeben könnten.

Neues weiß ich dir von hier aus nichts zu schreiben, als daß vor einigen Tagen unser Vetter Karl Kless (von Königsbronn) von dem König zum Hofkaplan ernannt worden ist; er hatte bei seinem Aufenthalt in Rom dem dort gestorbenen Hannover’schen Gesandten eine Leichenrede gehalten, und zwar mit großem Beifall. Dadurch wurde unser König aufmerksam auf ihn, ließ ihn nebst einem andern vor sich predigen, und wählte den Kless.

In unserer Familie ist Alles wohl. Das Haupt derselben, der Onkel Prälat ist nun eigentlicher Pfarrer in Denckendorf, und versieht die Stelle so gut, wie der jüngste Mann. Unser Bruder August wird immer korpulenter, wotzu die bequeme Lebensart, welche er führt, helfen mag. Die beiden Knaben unserer Schwester lernen ordentlich, der ältere aber ist schwächlicher und kräncklicher Natur. Wie sehr es mich und meine Frau freuen sollte, die Bekanntschaft deiner 3 kleinen Kinder und die erneuerte deines Pauls zu machen, kannst du nicht glauben. Entschließe dich doch zu uns zu kommen, und sey versichert, daß uns nichts Angenehmeres zu Theil werden könnte.

Über unsere landschaftlichen Angelegenheiten herrscht gegenwärtig ein tiefes Stillschweigen, die Königlichen Kommißarien unterhandeln noch immer mit den landständischen, und man glaubt noch immer, daß sie sich vereinigen werden.

Nun leb recht wohl und gesund, und laß uns dir und d˖[einer] lieben Frau bestens empfohlen seyn, so wie ich dir noch einmal eine HieherReise recht sehr ans Hertz gelegt haben will.
Dein
tr˖[euer] Br˖[uder]

Karl