Schelling

Schelling Nachlass-Edition


Hochverehrter Herr Professor,

Je weniger oft die wahrhaft schaffenden Geister von ihrer Zeit recht begriffen und gewürdigt, anerkannt und geehrt werden, je weniger namentlich, wie es scheint, unsere Jugend sich die Regel des Wohlanstandes und der Ziemlichkeit zum heiligen Gesetz macht, auf das Verdienst ihrer Lehrer und Vorgänger mit dank- und hochachtungsvollem Herzen hinzublicken, sondern statt dessen vielmehr sich einem oberflächlichen Kritisiren, dünkelhaften und altklugen Wesen hingiebt: desto mehr müssen und sollen doch wohl diejenigen, welche die Natur mit etwas höherm und edlerm Sinne und mit Geisteskräften begabt hat, wodurch sie von ihr berufen sind, vorzüglichen Antheil an der Gestaltung ihrer Zeit zu nehmen, sich als heilige Pflicht die selbstsuchtfreie Würdigung jeder Persönlichkeit und Eigenthümlichkeit, am meisten aber der ausgezeichneten und ausserordentlichen, zum Spiegel gleichsam vorhalten, worin sich der Würdigende selbst beschaut, und einen Theil der Lichtstrahlen von dem gewürdigten Gegenstande selbst empfängt. Beweggründe solcher und andere besondrer Art, die aus der tiefsten und innersten Selbsterkenntniß, wie aus dem auf die Wahrheit gerichteten Wissen von der Vor- und Mitwelt in mir zum Bewußtsein gekommen, sie alle sind es, welche mich jederzeiten mit einer heiligen Scheu und Pietät, oft mit einem sehnsüchtigen Gefühle auf die erhabenen und welthistorischen geistigen Erscheinungen hinblicken und auch jetzt diese Worte an Sie, Hochzuverehrender Herr Professor, richten lassen. Dabei aber bekenne ich offen und frei, weit entfernt von dem Gedanken zu sein, Ihren bei den Zeitgenossen erlangten und von der Weltgeschichte Ihnen gesicherten Ruhm erst begründen, und feststellen zu wollen, was ohne mich und vor mir geschehen ist und nach mir geschehen wird. Nur dessen bin ich mir klar bewußt, daß es überhaupt der Stolz und Lohn des Geringern sei, das Höhere und Höchste zu erkennen, sich ihm dankbar zu beweisen, und von diesem selbst wieder erkannt und anerkannt zu werden. Und darum glaube ich auch zugleich versichert sein zu dürfen, daß Sie mich für mein vielleicht etwas zudringliches und gewagtes Unternehmen, Ihnen durch mein Wort und Werklein beschwerlich zu fallen, gütigst entschuldigen werden. Derselbe Trieb, der mich aus der tiefsten Dunkelheit des Standes hervorrief, durch die oft sehr verworrenen und beschränkenden Verhältniße des Lebens bewußtlos bis in das Gebiet des Heiligsten und Höchsten, bis in das Gebiet der Wahrheit oder des reinen Gedankens geleitet, und mich stets mit heiligem Eifer und göttlicher Liebe für die Gegenstände desselben erfüllt hat, derselbe göttliche Trieb war und ist es, der nunmehr sich seiner selbst bewußt, mich unwiderstehlich an Ihre Werke gehen, mit Ihrem Geiste befreunden ließ, und erfüllt durch ihn, ja gleichsam genährt von und in ihm, mich auch jetzt die ebenso heilige Pflicht kindlicher Dankbarkeit und Hochachtung zu üben heißt.

Veranlassung und Zweck der Ihnen verehrungsvoll übergebenen Arbeit sind in derselben hinlänglich angedeutet. Ebenso wohl auch der Zweck und die Richtung meines Lebens, Denkens und Handelns so wohl jetzt, als auch in Zukunft. Wenn Sie meine Abhandlung näher anzusehen würdigen sollten, so muß ich im Voraus bitten, nicht allein die Mangelhaftigkeit der Form, sondern auch und noch mehr manches mir selbst nicht mehr ganz reif und volkommen begründetes, jedoch auch schon vor einem Jahr geschriebene Wort und Urtheil gütigst zu entschuldigen. Der Geist meines jetzigen großen Lehrers ist darin nicht zu verkennen, und das, worin ich selbst schon Abweichungen habe bemerken und andeuten müssen, sind wohl nur für den Meister und mich, sehr schwer aber sogleich für einen Dritten wahrnehmbar. Doch glaube ich in dem Urtheile meines großen Lehrers an das hiesige Ministerium, das mir ein »selbständiges Nachdenken« beilegt, den Sinn des Meisters erkannt zu haben; und darf deshalb wohl ohne Überschätzung des eigenen Werthes versichern, dasselbe Urtheil späterhin selbst vor der Welt zu rechtfertigen. Es hätte schon geschehen sollen und wird hoffentlich bald geschehen in einem Werke, wovon ich einen Theil zur Erlangung der akademischen Lehrfreiheit der hiesigen philosophischen Fakultät vorgelegt, aber hierüber so wunderliche und auffallende Meinungen und Urtheile habe hören müssen, daß ich etwas schüchtern gemacht, nicht anders kann als den Gegenstand nur noch tiefer und schärfer auffassen und darstellen. Das Werk betrifft die Philosophie der Sprache oder die reine und allgemeine Sprachwissenschaft. Da mir nach meiner Promozion auf einige Zeit zu eigenen Arbeiten Muße und auch die mir eine Zeit lang sehr verkümmerte innere und äußere Ruhe wiedergegeben ist, so wird ausser dieser Arbeit zunächst noch ein Lehrbuch der reinen oder razionellen Seelenlehre mich beschäftigen, welches ich wahrscheinlich jener früheren Arbeit über die Sprache voraussenden werde, hauptsächlich deswegen, um dadurch für diese den Grund zu legen. Denn eben deswegen, daß ich diese Grundlage zur Voraussetzung machte, mußte ich bei unseren Philologen und Naturforschern auch eine ebenso wenig zu rechtfertigende Abfertigung meiner Arbeit erfahren, als diese selbst in gewissem Sinne nicht gerechtfertigt, und nur von Aussen besehen, willkürlich zusammengesetzt zu sein schien. Ob ich zum und später in Berlin bleiben und lehren werde, oder wohin mich sonst meine jetzigen Verhältnisse und beschränkten Umstände rufen werden, und ob ich den Winken des hiesigen Ministeriums, Berlin mit einer andern Preußischen Universität zu vertauschen, Folge leisten kann, weiß ich zur Zeit noch nicht.

Sie verzeihen gütigst, Hochverehrter Herr Professor, daß ich bei Überreichung meiner Arbeit mir sogar die Freiheit genommen, dieselbe nur mit ganz persönlichen Umständen zu begleiten, welches sich mehr für ein auf längern und befreundeten Umgang stützendes Verhältniß eigenen möge. Hochachtung indessen und Ehrfurcht, wovon ich seit der nähern Bekanntschaft mit Ihren unsterblichen Geisteswerken vor Ihnen erfüllt bin, haben mir Muth und Zutraun gegeben, haben mir jetzt die Feder geführt, und die Überzeugung bewirkt, daß Sie mir solches Thun nicht als eine Unbescheidenheit und Unschicklichkeit anrechnen werden. – Höchst erfreuen aber wird es mich, einmal irgenwie zu erfahren, daß mein Streben und Bemühen Ihren Beifall, mein Unternehmen im genannten wisssenschaftlichen Felde Ihre Aufmunterung und meine Ihnen nicht ohne Schüchternheit überreichte Abhandlung Ihre Aufmerksamkeit auf mich sich erwerben haben sollte.

Mit den Gesinnungen der reinsten Hochachtung und Ehrfurcht, der Dankbarkeit und Ergebenheit werde ich mich stets bemühen auf wahrhafte Weise zu sein
Ihr
gehorsamster

J.G. Mußmann.