Schelling

Schelling Nachlass-Edition


Herrn

MedicinalRath Dr. Schelling

in

Stuttgardt.

Liebster Bruder!

Diesen Brief werden die beyden Nürtinger Knaben Dir überbringen, die wir mit derselben Gelegenheit zurückgehen lassen, mit welcher sie gekommen sind. Sie werden morgens früh in Stuttgardt ankommen, und ich habe ihnen erlaubt, zur schicklichen Zeit in Dein Haus zu gehen und sich (wenn sich nicht etwa gleich eine Gelegenheit nach N˖[ürtingen] finden sollte) einen Tag, aber durchaus nicht länger, in Stuttgart auszuruhen. Willst Du und kannst Du sie ohne Beschwerde bey Dir ausruhen lassen, so danke ich Dir zum voraus herzlich dafür; wo nicht, so sind sie angewiesen, wieder zu dem Schwiegervater des Herrn Planck zu gehen.

Ich läugne nicht, daß wir uns im Ganzen recht herzlich an den beyden Jungen erfreut haben. Sie sind wirklich an Seel’ und Leib gesund erhalten worden und haben beyde an sittlicher Bildung gewonnen. Paul hat im Grichischen mehr gelernt als ich erwartete; auch macht er schon ganz leidliche Verse. Nur in der lateinischen Prosa, was doch die Hauptsache, ist er ziemlich unter meinen Erwartungen geblieben; das Mangelhafte seiner Kenntnisse und seine geringe Fertigkeit bey dem vielen Lateinlesen, zeigen mir, daß er seine Flüchtigkeit und Zerstreutheit leider noch lange nicht hinlänglich überwunden hat. Wenn ich bedenke, was wir einst in diesen Jahren leisteten, so müßte er wenigstens der Regeln völlig mächtig seyn und wenigstens anfangen, Sinn und Geschicklichkeit für ächtlateinischen Ausdruck und Periodenbau zu zeigen. Ich habe dabey schon in Abrechnung gebracht, daß er im Griechischen allerdings weiter ist, als wir einst in diesem Alter zu seyn pflegten. Ich bitte Dich, ihm doch auch in dieser Beziehung ein wenig in’s Gewissen zu reden und ihm vorzustellen, daß er aufmerksamer beym Lesen der lat˖[einischen] Autoren seyn, und überhaupt sich bemühen muß, besser zu behalten, als jetzt, wo man ihm oft eine Sache 10mal sagen kann, ohne daß er sie behält und er daher fast Alles unzählige Mal lernen muß. Sein Kopf hat die unglückliche Eigenschaft, bey jeder Veranlassung und wenn er nur irgend ein Vergnügen, z.B. eine Reise, voraussieht sich mit eiteln und ungehörigen Vorstellungen anzufüllen. So sehr ich daher auch Ursache habe, gegen das Übermaß Deiner Güte mich zu stemmen, so ist es doch nicht allein diese Scheu, sondern es ist ebenso sehr die Erwägung, daß die Voraussicht so oft wiederkehrender und großer Ergözlichkeiten die beyden Jungen, insbesondere aber den älteren, viel zu sehr zerstreut, welche mich zu der Bitte veranlaßt, ihnen bestimmt zu erklären, daß sie künftig nur noch einmal (wenn es Dir nämlich gefällig ist) nach Stuttgart kommen dürfen, wie wir ihnen dieß auch bereits erklärt haben: denn in jeder Herbstvacanz werden wir sie künftig auf dieselbe Art kommen lassen, da es so leicht und sicher geschehen kann; und zwey Ferienreisen sind für so leicht zerstreute und dem Ernst so wenig ergebne Jungen vollkommen hinreichend. Wenn Du es also erlaubst und sie nicht grade um diese Zeit Dir und der lieben Schwägerin zur besondern Last sind, mögen sie die ferien nach St˖[uttgart] kommen, aber durchaus nicht, und Erndtevacanz, die so nahe an die beyden Hauptferien fällt, ebenso wenig. Überhaupt wird eine eindringliche Erinnerung, daß es nun nicht mehr Zeit sey zu spielen sondern alle Kräfte anzustrengen, grade von Dir, dem sie so viel Vergnügen verdanken und den sie so innig lieben, von dem besten Erfolg seyn. Suche besonders auf Paul in dieser Hinsicht zu wirken, denn Friz hat verhältnißmäßig zu meiner Verwunderung viel gelernt und ist auch durchaus willig ja freudig zu lernen, es kommt nur auf das Beyspiel seines Bruders und auf den Lehrer an, um alles aus ihm zu machen. Du hast zu viele, ja Du hast wahrhaft väterliche Liebe und Treue an den Kindern bewiesen, als daß Du es mir verübeln könntest, wenn ich Deinen Einfluß auf sie auch in dieser Beziehung in Anspruch nehme.

Wir hoffen durch die Kindern auch recht bald von Deinem und der lieben Schwägerin Wohlbefinden und dem glücklichen Gedeihen Deines lieben Töchterchens unterrichtet zu werden. Mögest Du diesen in vollstem häuslichen Glück, ungestört durch irgend einen widrigen Zufall verleben! Die herzlichsten Grüße an Deine liebe Frau und an unser gutes Clärchen.
Dein
tr˖[euer] Br˖[uder]

Fr.