Sr. Wohlgebohren
Herrn Dr. Carl Passavant
in
am Main.
frey.
Von Ihnen nach langer Zeit wieder ein Zeichen freundlichen Andenkens zu erhalten hat mich wahrhaft gefreut, denn daß Sie vor wie Sie mir schreiben hier gewesen habe ich nicht einmal erfahren. Um so erfreulicher wäre die Hoffnung, Sie in diesem hier zu seh’n, wenn ich nur nicht in demselben Falle mit Ihnen wäre, nicht genau bestimmen zu können, wann eben, oder auch wie lange ich noch hier sein werde. Zwar die nächsten Monate (bis ) werde ich mich nicht entfernen, aber ich bin in einem solchen Gedränge von Arbeiten und äußren Umständen, daß ich zweifeln muß, ob Sie viel Freude an und mit mir haben würden. Sehen werden wir uns aber doch, auf die eine oder andre Weise, nur über Zeit und Ort behalte ich mir das Nähere vor. Sollte aber auch aus dem Sehen nichts werden, so harren Sie noch die kleine Weile; ich hoffe Sie sollen noch vor Mitte des Sommers wo nicht mich doch etwas von mir seh’n, das Sie erfreut.
Meinen treuen aber auch in treuem Andenken gehaltnen Freunden Thomas und Neeff meine herzlichsten Grüße!
Doch wünsche ich, daß das eben Erwähnte ganz unter meinen Freunden bleibe.
Dem wackern Molitor bitte ich zu sagen, daß ich ihm immer schreiben wollen, anfangs in der Hoffnung hier einen Recensenten seines Werks zu finden, aber die Wahl war nur zwischen zweyen, und der eine im Ganzen wohl Gesinnte hätte unfehlbar eine unerfreuliche Confusion eigener Einfälle und Combinationen eingemischt, der andre – hätte, obwohl ein sehr gelehrter Mann, doch schwerlich seinen modern-kritischen Standpunct verläugnet; ich hoffe daher immer, mir noch selbst einige Tage abzumüßigen und eine, nur aufmerksam machende nicht beurtheilende Rec˖[ension], etwa für die Jen˖[aer] L˖[iteratur]Z˖[eitung] zu fertigen, aber es war eben nicht möglich bis jetzt dazu zu gelangen.
Wegen Krafft: wenn Sie einen Prediger verlangen, der gegen alle Höh’n und Tiefen der Wissenschaft seinen Glauben selbst wissenschaftlich sicher stellen kann, so ist er nicht der Mann (aber wo wäre der leicht zu finden?) Wollen Sie aber einen Mann, der schlicht und einfach, ohne rechts oder links zu sehen oder je irre zu werden, den genauen Weg des Evangeliums wandelt, und durch eigne Einfalt des Sinnes und Geistes (im besten Sinn) auch andre gewinnt, so werden Sie Ihren Mannen finden. Wollen Sie einen, der Sie einer aufgeklärten Bürger- und Kaufmannschaft gegenüber nicht compromittirt, so taugte er, hiesigen Exempeln zu folge, nicht für sie. Scheuen Sie das aber nicht, oder haben Sie es nicht zu besorgen, so wird Ihre Vaterstadt Ihnen, wenn Sie ihn wählen, das Muster eines evangelischen Predigers in Lehre und Wandel, wie man es, auch in der doch allmählig besser werdenden Zeit selten antrifft, Ihnen verdanken. Ungern aber würden Wir ihn verlieren.
Leben Sie recht wohl und gedenken meiner in Freundschaft.
Ihr erg˖[ebenster]
Schelling