Schelling

Schelling Nachlass-Edition


Durchlauchtigster Kron-Prinz,
Gnädigster Fürst und Herr!

Eurer Königlichen Hoheit sende ich mit dem tiefsten, ehrfurchtsvollesten Danke die mir gnädigst mitgetheilte Beschreibung der äginetischen Bildwerke zurück.

Wenn England sich mit dem Raub von Athen bereichert, wenn man unter dem britischen Nebelhimmel das Höchste, wozu die Kunst gelangt, wird sehen müssen: so hat Baiern durch Eurer Königlichen Hoheit weiseste Wahl Dasjenige erhalten, wodurch allein jene Werke begreiflich und in Gedanken erreichbar werden, die man zuvor nur unbegriffen bewundern und blindlings als ein Wunder anstaunen konnte.

Die Werke von Aegina schließen die geheime Werkstätte auf, in der jene letzten und höchsten Geburten langsam herangereift sind.

Zum Erstaunen der Kunstverständigen, zur Freude aller Verehrer der Natur, zum Verdruß aller Kunst-Idealisten ist es jetzt über allen Zweifel zur Thatsache, in einem Grad den man nicht zu ahnden gewagt hätte, erhoben, daß der vollendete Styl weder, wie Winckelmann behauptete, aus einem »Systema von Regeln, die zwar im Anfang von der Natur genommen waren aber bald diese verdrängten«, noch wie andre sich einbildeten aus der bloßen ägyptischen Steifheit hervorgegangen ist, sondern aus einer Nachahmung der Natur sich entwickelt hat, von deren Treue und Genauigkeit die neuere Kunst keinen Begriff gehabt.

Erlauben Eure Königliche Hoheit, daß ich über diese befremdende Erscheinung der durchgängigen Einförmigkeit und Gleichheit der Köpfe eine Bemerkung beyzufügen wage.

Unstreitig hat Wagner darinn das Richtige getroffen, daß er diesen Umstand aus dem Zeitpunct erklärt, da man zwar angefangen hatte, dem Körper Bewegung, Leben, Wahrheit und Mannichfaltigkeit zu ertheilen, aber an den Kopf und die Gesichtsbildung sich noch nicht wagte. Wenn er aber diese Scheu aus einem festen, gleichsam heiligen, Typus der Götter- und Heroënbildungen erklären will, den zu verlassen man damals noch gleichsam zum Gewissen sich gemacht: so würde dieß, meines geringen Bedünkens, zwar erklären, warum z.B. die Minerva oder jede andre Gottheit immer mit der gleichen Gesichtsform vorgestellt worden, nicht aber, warum alle menschliche und göttliche, männliche und weibliche, Bildungen, ohne allen Unterschied, immer gleich gebildet wurden. Dieser gänzliche Mangel an Abwechselung nicht in den Gesichtsbildungen Einer und derselben sondern ganz verschiedner Persönlichkeiten, scheint mir keine andre Erklärung zuzulassen, als ein absichtlich, auch in Ansehung der verschiednen Körpertheile, stufenmäßiges Fortschreiten der griechischen Kunst, die auch hier den Weg von unten auf genommen, und zufrieden, einstweilen die niederern Theile auf’s treueste zu bilden, sich in Ansehung des edelsten Theils lieber mit einer angenommenen (conventionellen) Form begnügen, als sich selbst voreilend etwas künstlerisch Geringeres oder gar Schlechtes erschaffen wollte.

Um meinerseits auch eine Kleinigkeit beyzutragen, wage ich eine Übersetzung der griechischen Inschrift (p. 23) beyzulegen, welche dem gelehrten Alterthumsforscher in mehr als Einer Hinsicht sehr wichtig, aber auch dem Kunstfreund, der sich gern an Ort und Stelle versetzt sieht, erfreulich seyn muß, weil sie ihn einen Theil der Geräthschaften jenes Tempels, sogar mit Angabe der Zahl, kennen lehrt.

Geruhen Eure Königliche Hoheit diese schwachen Bemerkungen als erste Ausbrüche der Freude über diese einzig ergreifende Erscheinung und durch Höchstdieselben uns neu aufgeschloßne Welt nicht ungnädig anzusehen.

Ich ersterbe in tiefster Ehrfurcht
Eurer Königlichen Hoheit
unterthänigster

Schelling.