Schelling

Schelling Nachlass-Edition


Meiner lieben Schwester

Liebste Schwester!

Dir zu schreiben habe ich absichtlich bis jetzt anstehn lassen. Jedes Wort mußte im ersten Augenblick nur Deine Wunde wieder aufreißen. Meiner und meiner Frau treuester Theilnahme warst Du auch ohnedieß versichert. Jetzt aber erlaube, daß ich dasselbe Dir auch schriftlich bezeuge. Ich bin gewiß, daß Deine Fassung und ruhiges Gemüth auch bey dieser schweren Prüfung Dich nicht verlassen hat. Inzwischen haben die Tröstungen der Religion Dich, wie ich nicht zweifele, völlig beruhigt. Die Schikungen Gottes sind gut und heilsam, auch wenn wir es nicht einsehen. Die Vorsehung, welche Dich in so frühen Wittwenstand versetzte, wird auch Mittel und Wege finden, Dich reichlich zu entschädigen, wozu ja schon die fröhlichen Hoffnungen hinreichen, die Du von Deinen beyden Kindern fassen kannst. Wir wollen also Deinem theuren Gatten seine Ruhe und Erlösung von so vieler Beschwerde gönnen. Nie werden wir sein gutes und zartes Gemüth, seine Liebe zu uns allen vergessen. Ihm ist wohl! Möge nun Dir auch wieder recht wohl werden, so wohl als in dieser Welt des Wechsels und der Prüfung einem ruhigen und Gottergebnen Gemüth werden kann. Legst Du einigen Werth in unsere Theilnahme, so sey überzeugt, daß ich und meine Frau an Deinem und Deiner Kinder Wohlergehen wie an dem eigenen uns freuen und nichts, was Dir begegnet, es sey Leid oder Freud’ uns je fremd seyn kann. Du erhalte uns auch Deine Liebe, und gönne den Entfernten stets einen Platz in Deinem Herzen.

Diese Zeilen sind so lange liegen geblieben, weil ich immer der guten Mutter schreiben wollte und nicht dazu kommen konnte. Nun kann ich sie mit einer frohen Nachrhicht beschließen, an der auch Du, ich bin es überzeugt, herzlich theilnimmst, nämlich daß meine Frau glücklich von einer Tochter entbunden worden. So reiht sich in der Welt Freude an Traurigkeit! –

Gott segne Dich und erhalte Dich, liebste Schwester; ich bin und bleibe
Dein
treuer Bruder

Fr.