A Mademoiselle
Mademoiselle Julie Gotter
Ich soll heute schreiben, weil Pauline von einem mitgemachten Souper und Punschgelage noch etwas wüst im Kopf, obgleich sonst ganz wohl ist; ich ergreife die Gelegenheit, mich einmal mit Ihnen, liebes Julchen, in Rapport zu setzen, der ich noch immer den Dank schuldig bin für so viele freundschaftliche Bemühungen und Besorgungen, die Sie auch für mich übernommen. Ich weiß, daß ich Ihnen von nichts Angenehmerem schreiben kann, als von dem Wohlbefinden Ihrer Schwester, in der That, es ist ganz ausgezeichnet und erwirkt auch bey anderen Verwunderung und wenn es denn einmal verwehrt ist zu wünschen, daß Sie jetzt bey uns seyen möchte ich doch wünschen, daß Sie wie in einem Zauberspiegel das volle Gesicht, die runden Wangen und das blühende Aussehen der guten Pauline erblicken könnten. Seit einiger Zeit hat sich der Himmel wieder erbarmt, ein heftiges Gewitter im Tyroler Gebirg sendete uns fast 2 Tage lang eine Kälte, die uns zwang bey der Ofenwärme Zuflucht zu suchen; jetzt ist heitre warme Luft und die frischbeschneyten Gebirge stehen glänzend in dem klaren Aether unserm Fenster gegenüber. Wenn hier schönes Wetter ist, ist es unvergleichlich schön; viel schöner als ich es an anderen Orten gesehen zu haben glaube. Diese Witterung gibt denn auch Veranlassung zu manchen kleineren Partieen auf denen wir der guten Mutter die Schönheiten Münchens zu zeigen bemüht sind und woran Pauline jetzt mit freyerem Herzen theilnehmen kann. Die Mutter befindet sich trefflich, Luft und Clima scheinen sie zu stärken; vor allem aber erheitert ihr Gemüth das angenehme Schwiegertöchterchen. Wissen Sie, daß die Köhler jetzt wieder zurück ist? Das Landleben und die Zerstreuung der Reise haben ihr recht wohl gethan. Sie war wieder stärker, farbiger heitrer, aber schon fühlt sie wieder den Druck der unglücklichen, lieblosen Umgebung und wird, ich fürchte es, bald wieder niedergeschlagen seyn und abgemagert. Der gothaische Jüngling hat sich auf seiner Wallfahrt hier eingefunden aber wenige Tage aufgehalten, so daß ihn P˖[auline] nur auf eine Tasse Thee bitten konnte. Es hat mich gedauert, daß er so weit hergekommen war die Grabstätte seines Vaters zu sehen und nun doch der Zeitumstände wegen sie nicht gesehen; er ging von hier unmittelbar nach Genf. Von Sachsen sind wir hier, wie es scheint abgeschnitten, so unvollkommne Nachrichten, die fast nur wie Gerüchte aussehen, erhalten wir von den Ereignissen bey Dresden. Kommt Ihnen etwas Näheres zu, so theilen Sie es mit. – Wissen Sie dort nichts von A˖[ugust] W˖[ilhelm] Schlegel? Ist er mit Frau von Staël in L˖[ondon] oder wo sonst?
Nun, bestes Julchen, nehmen Sie mit diesem Brief aus dem Stegreif, der nur Surrogat eines andern seyn sollte, und so ziemlich auch die Natur der Surrogate hat, in Freundschaft vorlieb.
Die herzlichsten Grüße und Empfehlungen von uns und von der Mutter an Sie alle; meiner lieben andern Mutter küsse ich zärtlichst die Hände; Sie liebstes Julchen nehme ich mir die Freyheit in Gedanken zu umarmen und bin und bleibe Ihr
getreuer Schwager und Freund
Schelling