Schelling

Schelling Nachlass-Edition


Verehrtester Herr und Freund!

Recht lange habe ich anstehn lassen, auf Ihr freundliches Schreiben vom zu antworten; ich wünschte Ihnen über die darinn gestellten Fragen sichere Kunde zu geben, allein diese Sachen sind aus sehr begreiflichen Gründen Wenigen bekannt und diese Wenige nehmen Anstand, darüber Aufschluß zu geben; nachdem ich also, namentlich wegen der colossalen Medusen-Maske von Verschiedenen widersprechende Antworten erhalten, wollte ich die Gelegenheit erwarten, an der Quelle selbst zu fragen. Nun kann ich Ihnen mit Gewißheit melden, daß die Rondininische Meduse allerdings gekauft ist und sich hier, obwohl wie alle diese Werke noch unausgepackt befindet. Von den Kunstwerken des Mus˖[eums] Albani habe ich dieses in Erfahrung gebracht, daß sie in verschiednen Abtheilungen, wo das Große und Vorzügliche für das Mittelmäßige und Geringe mitwiegen mußte, gesondert worden. Ob nun Seine Kön˖[igliche] Hoheit mehrere oder nur eine derselben gekauft kann ich nicht sagen. Wie zahlreich indeß die plastischen Schätze sind, die sich in der Folge hier aufthun werden, mögen Sie daraus abnehmen, daß Seine K˖[önigliche] H˖[oheit] ohne die Albanischen Sachen und die Statuen von Aegina bereits in Besitz von 80 antiken Bildwerken ist, worunter gewiß kein unbedeutendes.

Seit Visconti’s Äußerungen über die Elgin’schen Marmor ist alles voll davon. Wenn indeß England sich mit dem Raub von Athen bereichert und das Höchste griechischer Kunst unter dem britischen Nebel-Himmel zu sehen seyn soll, so wird Baiern und Deutschland dasjenige besitzen, wodurch jene unbegriffne hohe und fast nur als Wunder anstaunliche Schöpfungen begreiflich werden. Die Bilder von Aegina zeigen, so scheint es, die Bärmutter, in der jene vollendeten Geburten langsam herangereift sind. Sie machen augenscheinlich, wie diese Vollkommenheit weder aus einem »System von Regeln, die zwar anfangs von der Natur gewonnen waren, bald aber diese verdrängten«, noch überhaupt aus einem fortschreitend idealisirenden Bestreben sich entwickelt hat, sondern aus einer Treue und Genauigkeit in Nachahmung der NB. schönen Natur, von der man vielleicht keinen Begriff gehabt und gegen welche, wenn nur die Hälfte wahr ist, was Künstler versichern, jede andre noch so gerühmte nur auf der Oberfläche gespielt hat. Diese Nachahmung der Wirklichkeit erstreckt sich selbst auf die außerwesentlichen Theile, wie die Kleidungen, Schnitt und Anordnung der Haare, aber sie geht, unterstützt von einer vollkommnen Kenntniß der Knochen und Muskeln, im Fleisch bis zur höchsten Täuschung des Lebens, so zwar, daß man sich, nach dem Ausdruck eines Künstlers, bey einigen Theilen dafür entsetzt und sich scheut, sie anzufühlen. Dieses gilt jedoch nur von den eigentlichen Körpertheilen, denn der Styl der Köpfe ist so zu sagen ägyptisch-chinesisch oder, wenn man will, Correggioartig, aber, was das Wunderbarste ist, ohne alle Mannigfaltigkeit, dergestalt daß was Kopf und Gesichtsbildung und Ausdruck betrifft, Götter und Menschen, Sieger und Besiegte sich ganz ähnlich und nicht nur wie leibliche Brüder und Schwestern sondern wie ein Ey dem andern sich gleichen. Was sagen Sie dazu? Man will von Seiten der Künstler diese Einförmigkeit aus einer Scheu erklären, in Ansehung der Köpfe einen festen, gleichsam heiligen Typus zu verlassen. Aber kann hier von Typus die Rede seyn, wo gar kein Unterschied des Charakters ist? Wenn sich die Minerva, oder jede andere Gottheit, ja wenn auch nur überhaupt alle Gottheiten überall auf diese Art sich glichen, so würde ich eine solche Gleichheit aus einem solchen Grund etwa begreifen; wenn aber alle, göttliche und menschliche, männliche und weibliche, Bildungen in den Köpfen und Gesichtern nur wie Abdrücke Einer Form sind – diesen gänzlichen Mangel an Abwechselung nicht in den Bildungen Einer und derselben, sondern ganz verschiedner Persönlichkeiten, weiß ich mir nicht anders zu erklären, als aus einem absichtlich, auch in Ansehung der verschiednen Körpertheile, stufenmäßigen Aufsteigen der griechischen Kunst von Niederern zum Höhern. – Noch einmal, was urteilen Sie davon, Verehrter Freund? – Wie, wenn die griechische Kunst auch in dieser Beziehung den Weg von unten auf mit Vorbedacht und Bewußtseyn genommen hätte, wenn sie, zufrieden die niederern Theile auf’s Treueste zu bilden, in Ansehung des edelsten so lange, bis sie auch dessen Meister geworden, lieber mit einer angenommenen (conventionellen), allgemeinen Form als mit einer halbkünstlerischen Ausführung sich begnügen wollte, wie sie vielleicht früher aus einem ähnlichen Grunde sich versagte, die Beine zu trennen und in Bewegung vorzustellen? Doch dieß nur, weil ich in der That nichts anderes zu denken weiß! Von Ihnen allein erwarte ich Aufschluß über diese höchst verwundersame Erscheinung.

Seit ich Ihre neuesten Anmerkungen über den Colossen von Monte Cavallo gelesen, sehe ich ihn, wie es zu kommen pflegt mit ganz andern Augen an; es ist mir soviel Leben, lautere Natur, Kraft und Wirklichkeit darinn aufgegangen, daß ich – im Zusammenhalt mit den Äußerungen über die Elgin’schen Bildwerke, mich, wie man zu reden pflegt, dafür todtschlagen ließe, er sey ein Werk des Phidias. Auch was Sie von dem andern Colossen sagen, obwohl ich ihn nur aus dem Perrièr kenne, ist nach meinem Gefühl so sinnreich, daß man meynt, es könne nicht anders seyn.

Erfreuen Sie mich bald wieder mit einer Antwort und sey’n Sie der reinsten Verehrung versichert, womit ich bin und bleibe
Ihr
ganz ergeb[en]ster

Schelling

N.S.

Es ist in diesen Tagen bey der hiesigen Akad˖[emie] der Wissensch˖[aften] eine Schrift über die älteste griechische Kunst-Epoche erschienen, die Ihnen vielleicht auch zukommen wird. Ich bemerke, daß der Verf˖[asser] von den Aeginischen Statuen keine nähere Kenntniß gehabt hat, und die Behauptungen der Abh˖[andlung] überhaupt auf keine andre als seine Rechnung kommen.