Schelling

Schelling Nachlass-Edition


Gewordenes ist, und darum von Natur unwissend und gleichsam ewig jung, wie nach dem ägyptischen Priester die Hellenen. Dieses also, um zur Wissenschaft der gewesenen Dinge zu gelangen, muß sich an jenes innere Orakel wenden, den einzigen Zeugen aus vorweltlicher Zeit.

Dieses aber fühlt sich nicht weniger zu ihm gezogen. Es ruht in ihm die Erinnerung aller Dinge, ihrer ursprünglichen Verhältnisse, ihres Werdens, ihrer Bedeutung. Aber dieses Ur-Bild der Dinge schlummert in ihm, zwar nicht als ein ausgelöschtes und vergessenes, wohl aber als ein mit seinem eigenen Wesen verwachsenes Bild, das es nicht aus sich selbst entnehmen und hervorholen kann. Sicher würde es nie wieder erwachen, wenn nicht in jenem Unwissenden selbst die Ahndung und die Sehnsucht der Erkenntniß läge. Aber unaufhörlich von diesem angerufen um seine Veredlung bemerkt das Höhere, daß das Niedere ihm beygegeben ist, nicht um von ihm in der Unthätigkeit erhalten zu werden, sondern damit es ein Werkzeug habe, in dem es sich beschauen, aussprechen und sich selbst verständlich werden könne; denn in ihm liegt alles, ohne Unterscheidung zumal, als Eins; in dem andern aber kann es, was in ihm Eins ist, unterscheidbar machen und auseinanderlegen.

Es ist also im Menschen eines, das wieder zur Erinnerung gebracht werden muß, und ein anderes, das es zur Erinnerung bringt; eines, in dem die Antwort liegt, auf jede Frage der Forschung, und ein anderes, das diese Antwort aus ihm hervorholt; dieses andere ist frey gegen Alles und vermag alles zu denken, aber es wird durch jenes Innerste gebunden und kann ohne die Einstimmung dieses Zeugen nichts für wahr halten. Das Innerste dagegen ist ursprünglich gebunden und kann sich nicht entfalten; aber durch das Andere wird es frey und eröffnet sich gegen dasselbe. Darum verlangen beyde gleich sehr nach der Scheidung, jenes, damit es in sein ursprüngliches und eingebohrnes Wissen wieder versetzt, dieses, damit es von ihm empfange und ebenfalls, obwohl auf ganz andere Art, wissend werde.

Diese Scheidung, diese Verdoppelung unserer selbst, dieser geheime Verkehr, in welchem zwey Wesen sind, ein fragendes und ein antwortendes, ein unwissendes, das aber nach Wissen sucht, und ein wissendes, das aber sein Wissen nicht weiß; dieses stille Gespräch, diese innere Unterredungskunst, das eigentliche Geheimniß des Philosophen ist es, von welcher die äußere, darum Dialektik genannte, Kunst nur das Nachbild und, wo sie zur bloßen Form geworden, der leere Schein und Schatten ist.

Hier liegt nun auch die Antwort auf die Frage: Warum die Wissenschaft, obwohl dem Wort und dem Gegenstand nach Hist˖[orie] es nicht auch der Form nach ist? Denn erzählt wird seiner Natur nach alles Gew˖[ußte], aber das Gew˖[ußte] der höchsten Wiss˖[enschaft] ist kein Also erzählt wird seiner Natur nach alles Gewußte, aber das Gewußte ist hier kein von Anbeginn fertig daliegendes und vorhandenes, sondern ein aus dem Inneren durch einen ganz eigenthümlichen Prozeß immer erst Entstehendes. Durch innerliche Scheidung und Befreyung muß das Licht der Wissenschaft aufgehen, ehe es äußerlich leuchten kann. Erlangte Wissenschaft wäre der Form nach Historie; aber was wir so nennen, ist nur erst ein Streben nach dem Wiederbewußtwerden, also mehr noch ein Trachten nach ihr als sie selbst; aus welchem Grunde ihr unstreitig von jenem hohen Manne des Alterthums der Name Philosophie beigelegt worden ist. Denn die von Zeit zu Zeit gehegte Meynung, die vollkommenste Dialektik für die Wissenschaft selber anzusehen, verräth nicht wenig Eingeschränktheit, indem eben das Daseyn und die Nothwendigkeit der Dialektik beweißt, daß wahre Wissenschaft (ἱστορία) noch nicht gefunden ist.

Der Philosoph, indeß befindet sich hiebey in keinem andern Falle, als der andere Historiker Geschichtsforscher auch. Denn auch dieser muß, was er zu wissen verlangt, den Aussagen alter Urkunden oder der Erinnerung lebender Zeugen abfragen. Auch ihm ist viele Kritik oder Scheidungskunst nöthig, um aus der Verworrenheit der Nachrichten die reine Thatsache herauszuläutern, und das Wahre von dem Falschen, das Ächte von dem Unächten in den vorhan-