Sr. Hochwohlgebohrn
den Geheimen Hofrath pp Herrn von
Schelling
zu
FürstenfelderStraße 1002.
d. E.
Düsseldorf den .
Verehrungswürdigster Mann,
Der Herr O[ber]K[irchen]R˖[at] Niethammer versprach mir bei seinem neulichen Besuche in Düsseldorf ein Vorwort bei Ihnen für meine Bitte: daß Sie mir zum Behuf der Lebensbeschreibung meines verewigten Vaters seinen Briefwechsel mit Ihnen gütig mittheilen möchten, der, wie die von Ihrer Seite geschriebenen Briefe beweisen, welche ich aufbewahre, auch in philosophischer Beziehung nicht ohne Wichtigkeit seyn muß. Ebenso aber kann Ihnen derselbe würdige Mann auch Bürgschaft leisten für die besonnene Verwendung desselben, wenn er Ihnen mittheilen will, was ich ihm mündlich über den Geist, aus welchem ich eine solche Biographie betrachte, gesagt habe. Fern soll die Erwähnung aller kleinlichen polemischen Beziehungen von dem Bilde eines Mannes bleiben, der in seiner eigenthümlichen wissenschaftlichen Richtung, meinem Urtheile nach, eine bestimmte Seite der neuern Philosophie repräsentirt, also in seiner Erscheinung völlig selbstständig aufgefaßt und begriffen werden muß. Und wenn es zu beklagen ist, daß selbst in das Heiligthum der Wissenschaft persönliche Mishelligkeiten sich einschleichen durften, daß Männer, denen die ewige Harmonie der Geister mitten in ihrer äußerlichen Verschiedenheit zum Bewußtseyn gekommen seyn mußte, diese in ihren persönlichen Beziehungen vergaßen: so verdienen die Äusserlichkeiten dieses Streites kaum in die Geschichte aufgenommen zu werden. Nur die verschiedenen wissenschaftlichen Richtungen sollen daraus klar und scharf hervortreten, weil diese immer lehrreich sind. Da ich nun zuversichtlich voraussetzen darf, daß Sie Selbst, Verehrungswürdigster, im Wesentlichen dieselbe Ansicht haben, so kann ich um so unbefangener die Bitte um Mittheilung jener Briefe vor Sie bringen. Wollen Sie also im Fall Ihrer Einwilligung nur die Güte haben, durch Buchhändlergelegenheit die bezeichneten Papiere an die Seidelsche Buchhandlung in Sulzbach zu senden, die sie mir sicher zukommen lassen wird.
Wie ich dies eigentlich meine, hoffe ich nächstens durch Verlegung einer Schrift (»Beiträge zur Charakteristik der neuern Philosophie«) genauer bezeichnen zu können. Gar innig wünsche ich, wenn Sie über den durch dieselbe hindurchgehenden Hauptgedanken ein offenes Urtheil sagen wollten, wenigstens nur soviel, ob Sie einig mit mir seyen oder nicht über das dort nachgewiesene; auch schon in der Vorschule der Theologie angedeutete Grundgebrechen der neueren Philosophie.
Mit inniger Freude und großen Hoffnungen habe ich von Ihrer kräftigen Wirksamkeit an der Münchner Universität gehört: möchte dies Ihnen Veranlassung geben, auch mit Ihren längst versprochenen schriftstellerischen Werken hervorzutreten. Der Hegelsche Formalismus umflicht immer enger die Geister, und je mehr die Lebendigeren fühlen, daß derselbe in der Tiefe dennoch nicht genügen könne, desto mehr werden sie an Wissenschaft und Philosophie überhaupt irre. Deßhalb sehe ich hoffnungsvoll einer neuen und höhern Entwicklung
Sie entschuldigen die durchgängige Offenheit meiner Worte: zu einem großen Manne soll man, meines Erachtens, nur also reden; er scheidet das Zufällige vom Wesentlichen, und weiß auch im unklaren Ausdrucke und in der halben Andeutung zu finden, was man oft nur sagen wollte. Zudem zieht mich schon lange zu Ihnen innige Verehrung und Vertrauen hin, so daß ich mir den größten Zwang auferlegen müßte, wollte ich anders, versteckter, reden.
Dieser Brief geht durch Buchhändlergelegenheit; Sie vergeben deßhalb seine Form.
Mit den herzlichsten Wünschen und der innigsten Verehrung empfiehlt sich
IH Fichte Dr.
Prof. am Gymnasium.